Aug um Aug und Vorderzahn um Vorderzahn

Das Zahnmuseum Wien

erschienen in: Eine kleine Augustin-Museologie. Augustin, Februar 2016

Bis ins 18. Jahrhundert war die Versorgung der Zähne ein mobiles Gewerbe und wurde mitunter gar auf Jahrmärkten ausgeübt. Als medizinische Fachausbildung hat sich die Zahnheilkunde erst vor knapp 150 Jahren durchgesetzt. Eine kleine, feine Museumssammlung belegt ihren Werdegang. Lisa Bolyos hat mit zusammengebissenen Zähnen Prothesen, Bohrer und Lachgasapparate angeschaut und sich dabei ein paar dentologische Lieder vorsingen lassen.

Mit den meisten Heiligen ist es ja so, dass man nicht so genau weiß, wie es wirklich war. Das gilt auch für Apollonia, die (Dentist_innen muss es logisch, Patient_innen als klarer Widerspruch erscheinen) zugleich Schützerin der Zähne und der Zahnärzt_innen ist. Wie sie zu diesem Amte kam? Folter. Apollonia lebte im 3. Jahrhundert in Alexandria, Ägypten. Ob sie eine junge oder eine alte Jungfrau oder überhaupt eine Jungfrau war, darf unter historische Spekulation fallen, als gesichert gilt, dass sie für ihren Glauben verfolgt und gefoltert wurde, dabei Kieferfrakturen erlitt und ihr mehrere Zähne gebrochen wurden. So hat die katholische Kirche sie kurzerhand zur Zahnschutzheiligen ernannt, die katholische Kunstgeschichte kennt ihre Darstellung Zange und Zahn in Händen haltend. Gefeiert wird sie am 9. Februar, und dem Berufsstand der Landwirt_innen gilt die Wetterregel, dass «der Winter sehr spät entfleucht», wenn es zu Apollonia feucht ist.

Auch im Zahnmuseum Wien, das sich in Nachbarschaft des Josephinums im Innenhof der Währinger Straße 25a in ein Eck kuschelt, hängt ihr Bildnis hinter Glas, von Kieferfraktur keine Rede, eine zartmündige, roséwangige Blonde blickt da gen Himmel, in der Hand die obligatorische Metallzange mit einem gezogenen Zahn zwischen den Greifbacken.

Viktoria, Viktoria, der kleine weiße Zahn ist da

Das Zahnmuseum darf mit seiner 1821 begonnenen Sammlung als eines der ältesten Museen der Welt gelten. Begonnen hat die zahnmedizinische Sammlerei ein gewisser Georg Carabelli zum Zwecke der Veranschaulichung seiner Vorlesungsinhalte (Zahnmedizinern ist er vom «Tuberculum Carabelli», einem Höcker am Sechser, dem vordersten Backenzahn, ein Begriff. Vorstädterinnen hingegen eher von der 30A-Station Carabelligasse). «Die Zahnheilkunde war damals überhaupt nicht angesehen», sagt Johannes Kirchner, «die meisten Leute hatten Angst davor, und das zu Recht, denn die sich als Zahnheilkundler ausgaben, waren meist Scharlatane, die mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben.» Zähne und Ängste, das ist so eine Kombination, die Kirchner gerne aufgelöst sehen würde. Mit dem selbstbewussten Verhältnis zu den Zähnen müsse man schon bei den Kindern ansetzen, findet er, dass man Zähne bekomme sei schließlich Anlass zum Feiern!, und trällert die erste Zeile des ur-alt Kinderliedes: «Viktoria, Viktoria, der kleine weiße Zahn ist da…».

Was mit dem Schmerz des Zahnens beginnt, ist ein wenig vielversprechendes Projekt

Aber ehrlich, was mit dem Schmerz des Zahnens beginnt, ist ein wenig vielversprechendes Projekt. Und bis ins hohe Erwachsenenalter haftet dem Besuch bei der Zahnärztin, und sei sie noch so kompetent, der Druck des moralischen Zeigefingers an, man habe sich die Karies qua Schokoladeessen selbst gezüchtet, man putze die Zähne ungenau oder gar völlig falsch und außerdem sei der letzte Kontrolltermin geschlagene drei Jahre her. Wenn Darwin mit seinen Theorien der Fortentwicklung Recht gehabt hätte, müsste der krankheitsanfällige, schmerzempfindliche, bruchgefährdete Zahn nicht längst Geschichte sein? Na eben. Lange Zeit, erzählt Kirchner, habe man mangels Erklärung für die Höllenschmerzen an den Zahnwurm geglaubt, der den Zahn von innen aufzufressen gedenkt. Die Abbildung einer Elfenbeinschnitzerei aus dem späten 18. Jahrhundert hängt als Beleg im Vorraum: Im Hohlraum des Zahnes spielen sich apokalyptische Szenen ab, der Wurm, der tatsächlich eher einer Boa Constrictor gleicht, verschlingt und erwürgt Menschengestalten, die ihm hilflos ausgeliefert sind. Kein schlechtes Gleichnis für das Gefühl, das echter Zahnschmerz auslöst.

Kirchner ist selbst praktizierender Zahnarzt und Kustos des Museums. Und zwar jener mit der längsten Amtszeit. Vor dreißig Jahren hat er «das Museum aus dem Dornröschenschlaf geweckt» und führt seither durch die engbemessenen Räumlichkeiten, in denen dicht an dicht die Sammlungsstücke ausgestellt sind: Behandlungsstühle aller Generationen, Prothesen für Reiche (aus Elfenbein) und solche für Arme (aus Kautschuk), kunstvoll gefertigte Zahnstocher, riesige Gebissmodelle und in Wachs gemodelte Zahnkrankheiten, Tiergebisse, Karikaturen vom Zahnziehen und eine Menge Bohrer, angesichts derer man unwillkürlich die Zähne zusammenbeißt. Bevor der Bohrer mit Elektrizität betrieben wurde, kannte man, ähnlich der Nähmaschine, den Tretbohrer. Weil der Schmerz beim Bohren der Arbeit hinderlich war, war Abhilfe dringend nötig: In den 1840er Jahren bemerkte der Zahnarzt Horace Wells aus Hartford, Connecticut, die schmerzstillende Wirkung des Lachgases, als er einen mit Lachgas zugedröhnten Mann beobachtete, der sich eine Verletzung zuzog, ohne ihr Beachtung zu schenken. Die Betäubung war erfunden! Leider nicht zu Wells’ Ruhm und Ehr, denn der irrte sich, als er seine Entdeckung der gespannten Fachwelt vorführen wollte, in der Dosierung – sein Vorführpatient krümmte sich vor Schmerz.

Ich wünsch mir zum Geburtstag einen Vorderzahn

Johannes Kirchner führt mich von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück. Das Museum liegt im am Herzen. Dass es in seiner Gesamtheit fortbesteht, ist sein dringlicher Wunsch. Ob der erfüllt wird, ist Gegenstand von Verhandlungen. Das Zahnmuseum ist nicht das modernste der Stadt; es gibt keine Multimedia-Installationen, kein komplexes Vermittlungsprogramm, keine mehrsprachigen Texte, die mit Klebebuchstaben an die Wände appliziert wären. Aber braucht man das? Das Zahnmuseum ist eine Schausammlung und es hat einen Kustos, der mit Leidenschaft die Geschichte der Zahnmedizin erzählt, der zum Diskutieren bereit ist – und zum Singen.

Kirchner hat nämlich nicht nur eine zahnheilkundliche, sondern auch eine Bühnenausbildung. Er spielt Theater, sammelt Liednoten und singt. Dentistisches, versteht sich! Das gibt er bei entsprechenden Kongressen zur Auflockerung steifer Zahnmediziner_innen zum Besten, oder, wenn man Glück und Überzeugungskraft hat, bei einer Museumsführung. Zum Beispiel den amerikanischen Lispel-Klassiker «All I want for Christmas is my two front teeth». Oder Cissy Kraners «Ich wünsch mir zum Geburtstag einen Vorderzahn», das vom gewalttätigen Ferdinand erzählt, der ihr einen Zahn ausschlägt, von der Krankenkasse, die nicht zahlen will, und von der Tanzkollegin Mizzi, die dem Ferdl schöne Augen macht: «Mein Bruder sah sich tags drauf die Bescherung an und sprach: / Das büßt die Mizzi dieses Stück! / S’ heißt Aug um Aug und Vorderzahn um Vorderzahn / doch damit krieg ich meinen nicht zurück.»

Bei einem überdimensionierten Modell eines menschlichen Gebisses, das, so versichert Kirchner, Studienzwecken diente, kommen wir zum Abschluss. Kirchner zeigt mir, wie man es öffnen und einzelne, menschenkinderkopfgroße Zähne herausnehmen kann, um sie zu studieren. Man muss schon vom Fach sein, um die aufkommenden Geisterbahngefühle zu unterdrücken.

Apropos Geisterbahn treffe ich am Nachhauseweg vor dem Café Votiv auf einen elendig aussehenden Freund, der – seine betäubt nach unten strebenden Wangen zerstreuen alle Zweifel – gerade vom Zahnarzt kommt. «Hast du den Zahnwurm?», frage ich. «Wurzelbehandlung», antwortet er undeutlich. «Die heilige Apollonia stehe dir bei!», wünsche ich, stolz auf mein neu lukriertes Wissen. Aber er tippt sich nur auf die Stirn, den einzigen Teil seines Gesichts, der nicht geschwollen ist.

Zahnmuseum Wien

Währinger Straße 25a

1090 Wien

im Hof rechts

http://www.zahnmuseum.at

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